Die Paderborner Wasserkünste als technische Denkmale des europäischen Kulturerbes

Jesuitenwasserkunst im Europäischen Erbgang

Hintergrundbild: Kreismodell mit hervorgehobener europäischer Zone (Konzeption: M. Ströhmer, Kartengrundlage: MapChart, CC-BY-SA 4.0)

Bevor der weiträumige europäische Erbgang betrachtet werden soll, bedarf es zuvor eines Blickes auf den lokalen und regionalen Untersuchungsraum. Zur Veranschaulichung der räumlichen Dimensionen eignet sich daher ein Kreismodell, das die Wissensgeschichte zur „Jesuitenwasserkunst“ in ihren technischen und personellen Bezügen in zwei konzentrische Ringe aufteilt. Ausgehend vom lokalen Zentrum, der Stadt mit ihrem Quellgebiet, schließt sich eine regionale Zone an. Deren Radius von gut 100 Kilometern Luftlinie erfasst nicht nur die Standorte anderer, mit Paderborn vergleichbarer Anlagen, die den Baumeistern als Vorbild gedient haben könnten. Ebenso markiert die regionale Zone das personelle Einzugsgebiet von Baumeistern und Handwerkern, die von den Paderborner Bauherren mit der Konstruktion von Wasserkünsten beauftragt worden sind. Im äußeren zweiten Ring lassen sich schließlich jene „internationalen“ Spezialisten und Wissensvermittler verorten, die den Baumeistern als Inspiratoren gedient haben könnten. Hierzu zählten antike Autoritäten wie der römische Architekturtheoretiker Vitruv oder Heron von Alexandria, die bereits im ersten vor- und nachchristlichen Jahrhundert wegweisend Maschinen- und Wasserbaugeschichte geschrieben haben. Somit reicht der Radius des immateriellen Technologietransfers, der im 17. Jahrhundert für die Konstruktion der Jesuitenwasserkunst zu überwinden war, von der Mittelmeerküste Nordafrikas und dem Nahen Osten bis in das Quellgebiet der Pader.

 

Kreismodell mit hervorgehobener europäischer Zone (Konzeption: M. Ströhmer, Kartengrundlage: MapChart, CC-BY-SA 4.0)

Der erste Ansatz von Jacob Hein (der erste von insgesamt drei Baumeistern, die zum Bau der „Jesuitenwasserkunst“ engagiert wurden), eine „Balgenpumpe“ zu bauen, war nicht neu. Auf einen ähnlichen Einfall ist gut 90 Jahre zuvor der Orgelbauer Maximus von Dubrau in Südtirol (Hochstift und Stadt Brixen) gekommen.[1] Dieser war 1534 in der Grafschaft Tirol von Schwazer Bergbauunternehmern beauftragt worden, nach einem Streik der dortigen „Wasserheber“ die teure Wasserhaltung im Silberbergwerk zu mechanisieren.[2] Hierzu wurde ein „von Blasebälgen betriebenes Luftpumpwerk“ im Berginneren installiert, das zum Leidwesen der Investoren jedoch nicht funktionierte.

Entwurf eines "Balgpumpwerkes" um 1430 von Mariano di Jacopo, genannt Taccola: De ingeneis - BSB Clm 197,II (digitalisiert durch die Bayerische Staatsbibliothek, CC-BY-NC-SA)

In seinem Entwurf zeigt sich der Organist als Kunstingenieur mit europäischem Weitblick. So könnte er die Grundidee, die ihm vertrauten Blasebälge als Wasserpumpen einzusetzen, aus Oberitalien rezipiert haben. In seiner Handschrift „De ingeneis“ von 1433, die gut 190 Jahre älter war als Heins Entwurf, befindet sich eine Tuschezeichnung, die eine muskelbetriebene Zwei-Balgenpumpe aus Siena zeigt, erdacht von dem dort tätigen Ingenieur Mariano di Jacopo, genannt „Taccola“ (1382 – um 1458).[3] Ob der Schulmeister, der neben seinen Diensträumen in Fritzlar wohl auch Zugang zur Stiftsbibliothek von St. Peter hatte, eine Abschrift dieser italienischen Vorlage benutzt haben könnte, bleibt jedoch Spekulation.[4] Nahe liegt auch der Rückgriff auf das technische Knowhow seines Handwerks selbst. So fertigte er 1618/19, also nur fünf Jahre zuvor, zusammen mit einem Gesellen für das Kircheninstrument von Altwildungen (Bad Wildungen) vier neue Blasebälge an.[5] Deren beträchtliche Ausmaße von rund 3 Metern Länge und 1,5 Metern Breite könnten ihn womöglich zum Bau einer Balgenpumpe inspiriert haben.

Die Idee, schwere Blasebälge mit einem Wasserrad anzutreiben, war ebenfalls nicht originär. Mit dem Aufstieg der Montanindustrie, speziell des Eisengusses, die im 16. Jahrhundert auch im Herzogtum Westfalen und der Grafschaft Waldeck voll entfaltet ist, war das technische Grundprinzip bekannt und erprobt.[6] Auf vielen Hütten und Schmiedehämmern setzte man zum Anblasen von Hochöfen Blasebälge ein, die von Wasserrädern angetrieben wurden. Eine inspirierende Vorlage, die Hein neben dem Augenschein der Fachliteratur entnommen haben könnte, stammt ebenfalls aus der Toskana. In Venedig publizierte beispielsweise der ebenfalls aus Siena stammende Vannoccio Biringuccio (vor 1480 – 1537), ein Bergbauspezialist und Begründer der modernen Metallurgie, einen ähnlichen Entwurf. Dieser wurde 1540 posthum in der Erstausgabe seines späteren Standardwerks „De la Pirotechnia“ publiziert.[7]

Häufiger Gebrauch von Blasebälge zum Anblasen von Hochöfen (Quelle: Biringuccio, Vannoccio: De la Pirotechnia, Venedig 1540, S. 128, digitalisiert durch BIBLIOTECA EUROPEA DI INFORMAZIONE CC BY-ND 4.0)

Auch bei Heins zweitem Entwurf, dem Bau einer „Kettenpumpe“, stellt sich die Frage nach möglichen Erbanteilen Alteuropas. Zunächst ist festzuhalten, dass das Funktionsprinzip einer Hubkolbenpumpe seit der Antike bekannt war. Im Römischen Reich finden sie sich etwa bei Vitruv (80/70–15 v.Chr.), der ihr bis heute unverändertes Konzept im ersten vorchristlichen Jahrhundert im Zehnten Buch der Architektur beschreibt.[8] Archäologische Funde bestätigen, dass Vitruvs Pumpen neben der Wasserhebung in Brunnenschächten auch als Lenzpumpen in der Seeschifffahrt eingesetzt worden sind.[9] Nur ein Jahrhundert später folgt Heron von Alexandria († um 62 n.Chr.), genannt „mechanicus“, in seinem Buch über Pneumatik und Hydraulik.[10] Dort beschreibt er die Konstruktion einer zweizylindrigen Feuerspritze mit Klappventilen, welche die älteren Scheibenventile ablösten. Beide Entwürfe basierten jedoch auf demselben hydraulischen Prinzip, das sich bis in die Neuzeit tradiert hat.

Hinsichtlich der von Hein konzeptionierten Kraftübertragung über Rollen und Zahnstangen bietet das 16. Jahrhundert gleich mehrere Vorbilder. Der württembergische Hofbaumeister Heinrich Schickhardt, der neben Ulm die damalige Wasserkunst-Metropole Augsburg[11] besucht hat, skizzierte im Jahr 1598 die Aufhängung einer derartigen „Kettenpumpe“. Diese war im Erdgeschoß des städtischen Wasserwerks installiert, das sich auf mehrere Wassertürme „am Roten Tor“ erstreckte. Den von Hein skizzierten Einbau eines Segmentzahnrades schlägt vor ihm ebenfalls ein gebürtiger Italiener vor: Agostino Ramelli (1531–1608), ein Militär und Ingenieur, der lange Jahre in den Diensten des französischen Königs Heinrichs III. stand.[12] Ramelli beschreibt die Konstruktion des Zahnrades 1588 in Paris in einer zweisprachigen Erstausgabe seines Buches „Le diverse et artificose machine“. Dieses italienisch-französische Werk wird 1620 unter dem Titel „Schatzkammer Mechanischer Künste“ ins Deutsche übersetzt und könnte Jacob Hein ebenfalls als Vorlage gedient haben.[13] Neben der Rezeption europäischer Fachliteratur dürfte Heinaeus seine Ideen aber auch aus der unmittelbaren Anschauung gewonnen haben. Leider wissen wir nicht, ob er als wandernder Handwerksgeselle einst auch die norddeutschen Großstädte Braunschweig und Hamburg durchstreift hat. Hier standen neben berühmten Orgeln auch moderne Hebewerke, die Wasser mittels Kettenpumpen in Hochbehälter beförderten. In Braunschweig arbeitete bereits seit 1527 die Stadtwasserkunst „im Sack“ mit dieser Technik, in Hamburg wurde sie 1620 in die „Neue Wasserkunst am Oberdamm“ eingebaut.[14]

Funktionsmodell der Wasserkunst (CC BY, Karl Heinz Schäfer, Tourist Information Paderborn / Verkehrsverein Paderborn e.V.)

Im europäischen Kontext lässt sich der Technologietransfer zur Paderborner Jesuitenwasserkunst wie folgt zusammenfassen. Ausgehend von der Peripherie des äußeren Kreises, aus dem vorzugsweise das älteste, antike Wissen stammte, rezipierten dieses vor allem Künstler-Ingenieure aus Oberitalien und Frankreich. Deren literarischen Werke bestimmten wiederum die Ideenfindung im mittleren Kreisring. Hier vollzog sich seit dem Spätmittelalter die eigentliche Umsetzung zwischen Theorie und Praxis. In der regionalen Zone hingegen fand nicht nur die Anwerbung geeigneter Fachkräfte für den Wasserkunstbau statt, sondern auch die konkrete Adaption vererbter Ingenieurskunst. Im Zentrum aller Kreiszonen materialisierte sich schließlich das technische Bauwerk als europäisches Erbe zum Anfassen. Frühneuzeitliche Hebewerke und deren Verteilernetze wurden den naturräumlichen Vorgaben am Ort angepasst, ohne dass die Baumeister dabei das Rad neu erfinden mussten. Somit stehen historische Figuren wie der Orgelbaumeister Jacob Hein stellvertretend für alle Generationen von Wiederentdeckern und Weiterentwicklern antiker Techniken. Trotz individueller Kreativität, wie Hein sie beim Entwurf seiner Balgenpumpe an den Tag legte, verstand sich der Polypraktiker vermutlich als Epigone im besten Sinne des Wortes. Sein Bestreben, antike Wissensschätze für das bonum commune der Gegenwart nutzbar zu machen, hat sich letztlich über viele Stufen auch im Paderborner Funktionsmodell realisiert. Auch das Pumpwerk des 21. Jahrhunderts steht somit, bewusst oder unbewusst, am Ende eines langen, ganz Europa durchquerenden Erbganges.

[1] Vgl. Rudolf Palme / Peter Gstrein/Wolfgang Ingenhaeff, Schwazer Silber. Auf den Spuren der Schwazer Silberknappen, Wattens 2013, S. 36f. Dem Orgelbauer wurde zusammen mit seinem Vater Johannes von Dubrau und seiner Mutter Katharina im Jahr 1533 das Bürgerrecht der Stadt Brixen verliehen.
Vgl. Philipp Tolloi, Das Bürger- und Inwohnerbuch der Stadt Brixen von 1500–1593, Magisterarbeit Universität Wien 2010, Eintrag Nr. 360, S. 90.

[2] Durch den erfolgreichen Vortrieb der Stollen und Schächte mussten an der Sohle schätzungsweise 1,5 Liter „Bergwässer“ pro Sekunde mit der Hand abgeschöpft werden. Die vollen Wasserkübel, die 10 bis 20 Liter fassten, wurden von den „Wasserhebern“ über Leitern nach oben gereicht, womit permanent
90–100 Personen beschäftigt waren. Palme u. a., Schwazer Silber (wie Anm. 1), S. 36.

[3] Vgl. Albrecht Hoffmann, Wassernöte und technischer Wandel in der Frühen Neuzeit, in: Frontinus- Gesellschaft (Hrsg.), Die Wasserversorgung in der Renaissancezeit, Mainz 2000, S. 11–59, hier S. 40, Abb. 37.

[3] Heins „Musikantenzimmer“, ein Übungsraum für den Chor, befand sich über dem Kreuzgang der Stiftskirche St. Peter und ist bis heute erhalten. Vgl. Gerhard Aumüller, Geschichte der Orgel von Bad Wildungen im 16. und 17. Jahrhundert, in: Alfred Reichling (Hrsg.), Festschrift für Friedrich Wilhelm Riedel zum 80. Geburtstag, Kassel 2009, S. 111–148, hier: S. 116. Ein möglicher Zugang zu Originalen und Abschriften von italienischen Manuskripten könnte über die Privatbibliotheken von Fritzlarer Stiftsherren erfolgt sein. Hier kommen vor allem die Sammlungen des Martin von Geismar († 1450) und Heinrich von Hatzfeld († 1426), dem Konstrukteur der ersten Wasserkunst von 1390, in Frage. Vgl. Albrecht Hoffmann, Meister technischer Brunnenwerke
in Hessen vor dem Dreißigjährigen Krieg, in: Schriftenreihe der Frontinus-Gesellschaft 12 (1989), S. 84–126, hier S. 89.

[4] Vgl. Gerhard Aumüller, Geschichte der Orgel von Bad Wildungen im 16. und 17. Jahrhundert, in: Alfred Reichling (Hrsg.), Festschrift für Friedrich Wilhelm Riedel zum 80. Geburtstag, Kassel 2009, S. 111–148, hier S. 138–140.

[5] Vgl. allgemein Wilfried Reininghaus /Reinhard Köhne, Berg-, Hütten- und Hammerwerke im Herzogtum Westfalen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Münster 2008; Karl Schäfer, Geschichte der Eisenindustrie in der ehemaligen Grafschaft Waldeck im 16. und 17. Jahrhundert, Korbach 1977.

[6] Vgl. Theodor Beck, Beiträge zur Geschichte des Maschinenbaues (Documenta technica – Darstellungen und Quellen zur Technikgeschichte), Hildesheim/ New York 1970, S. 120f. Entsprechende Illustration bei Albrecht Hoffmann, Wassernöte und technischer Wandel in der Frühen Neuzeit, in: Frontinus-Gesellschaft (Hrsg.), Die Wasserversorgung in der Renaissancezeit, Mainz 2000, S. 11–59, hier S. 40, Abb. 37.

[7] Vgl. Brigitte Cech, Technik in der Antike, 3.Aufl. Darmstadt 2017, S. 107.

[8] Ebd., S. 106–110.

[9] Ebd., S. 108f.

[10] Jüngst wurde die oberdeutsche Wirtschaftsmetropole an Lech und Wertach als frühneuzeitlicher „Cluster der Wassertechnologie“ betitelt, um deren reichsweite Bedeutung für den mitteleuropäischen Wissenstransfer zu würdigen: Martin Kluger, Historische Wasserwirtschaft und Wasserkunst in Augsburg.
Kanallandschaft, Wassertürme, Brunnenkunst und Wasserkraft, Augsburg 2012, S. 103f.

[11] Vgl. Hoffmann, Wassernöte (wie Anm. 6), S. 40f.

[12] Deutsche Erstausgabe durch Henning Großen d. J. aus dem Jahr 1620 (ND Hannover 1976).

[13] Vgl. Albrecht Hoffmann, Zum Stand der städtischen Wasserversorgung in Mitteleuropa vor dem Dreißigjährigen Krieg, in: Frontinus-Gesellschaft (Hrsg.),
Die Wasserversorgung in der Renaissancezeit, Mainz 2000, S. 101–144, hier S. 118f.

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Dies ist ein Auszug aus einem Aufsatz des Historikers Prof. Dr. Michael Ströhmer. Der Originaltitel des Aufsatzes lautet: "Die Paderborner Wasserkünste als technische Denkmale des europäischen Kulturerbes ECHY 2018". Sollten Sie weiteres Interesse an der Geschichte der Paderborner Wasserkünste haben, empfehlen wir Ihnen den vollständigen Aufsatz (PDF-Datei) herunterzuladen.

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